Überirdisch und unterirdisch stürzt es jetzt im Sommer über den Stöttlbach nach Mieming. Um sich einen Weg zu bahnen, sprengt das Wasser selbst den Fels.
Der „Stöttlbach“ hat viele Quellen, die meisten vermute ich, weiträumig, im Bereich „Stöttltörl“. Das „Stöttltörl“ liegt auf 2036 Meter Höhe im Mieminger Gebirge, nördlich der „Wankspitze“ (2208 Meter über Seehöhe) und südlich eines Südwestausläufers, der relativ schwer zugänglichen „Griesspitzen“ (max. 2747 Meter über Seehöhe). Höher ist hier nur noch der „Hochplattig“ mit 2768 Metern. Dort möchte ich heute noch hin.
Ohne Ausrüstung zum Stöttlörl
Die Geschichte zu schreiben, war ein spontaner Entschluss von mir, wie so oft. „Spontan“ ist dabei noch reichlich übertrieben. Es ist ca. 7-Uhr-30 am Morgen. Meine Balkon-Blumen hatte ich schon gewässert und die Tageszeitung kurz nach Wesentlichem überflogen. Heute wollte ich mir einen ruhigen Tag gönnen. Eigentlich wollte ich nämlich, zwischen Frühstück und Verwaltungskram, ein paar Baustellen-Fotos vom werdenden Kälberstall am Hiaslhof machen. Deshalb war ich so gar nicht auf eine Bergtour vorbereitet. Meine Ausrüstung: Turnschuhe, Jeans, T-Shirt, ansonsten kam ich noch nicht zum Frühstück, hatte mir keinen Euro eingesteckt (wozu denn auch), mein Handy hing daheim am Ladekabel und in der Hosentasche hatte ich zwei Papiertaschentücher und die Postkastenschlüssel. Meine einzige Begleitung war eine einfache Canon 1100 D mit Standard-Objektiv.
Von Blüte zu Blüte – den Schmetterlingen folgend
Nachdem ich ein paar neue Baustellen-Fotos geknipst hatte, zog es mich zum nahen Stöttlbach. Ich wollte dort weiter machen, wo ich im Frühling aufhören musste. Einfach so und bis dahin, auch ohne Plan. Dem Wasser nach. Ich schieße die ersten Fotos in „Mikro“ und „Makro“, folge den Schmetterlingen, auf ihrem Weg von Blüte zu Blüte. Die Luft riecht wie ein Bergkräuter-Garten und es ist warm. Die Sonne wird auf meinem überwiegend kahlen Haupt ihre Spuren hinterlassen.
Von Motiv zu Motiv – vollkommen „entschleunigt“
Ich habe große Lust weiter zu gehen. Über „Stock und Stein“. Von Motiv zu Motiv und dabei den herrlichen Tag genießend. Was die Zeit angeht, vollkommen „entschleunigt“. Ohne jeden Druck. In Höhe der „Stöttlalm“, dort, wo für die meisten das „alpine Abenteuer“ ein Ende findet, beschließen meine Füße, ohne Absprache mit dem restlichen Menschen, ihren Weg fortzusetzen. Mal links, mal rechts des Stöttlbachs. Rasch komme ich weiter und nur wenn es gar nicht anders geht, suche ich mir einen Pfad, oberhalb des Stöttlbachs. Auf den Steinen, im Kiesbett, verlor ich einmal das Gleichgewicht und stürzte rücklings auf das steinerne Meer. Mein erster Blick galt der Kamera. Die robuste Sonnenblende schützte Gottseidank das Objektiv. Ich hatte ein paar breitere Schrammen, kleinere Schnittwunden am Rücken, ein beleidigtes, rechtes Knie, aber noch immer Lust auf Berg. Also, weiter geht’s.
Ein wenig Reue
Zum ersten Mal auf dieser Tour, bereue ich es, vorher keine geeigneten Schuhe angezogen zu haben. In Höhe der Boasligbrücke werde ich mich bei der Mutter Gottes dafür bedanken, dass ich nach meinem Sturz wieder aufstehen konnte. Hannes Westreicher, von der Bergrettung Mieming, erzählte mir mal, dass die meisten Fotografen, auf der Suche nach „dem“ Motiv in ähnlicher Weise wie gerade ich, abstürzen. Für viele war das in der Vergangenheit der finale Sturz.
„Mein Jakobsweg“ – Titelsuche
Hier und da lasse ich mich auf einem Stein nieder, schaue auf das Wasser und seinen Weg ins Tal und überlege, ob die Erlebnisse dieses Tages eine „Geschichte“ werden könnten. Nur mal so und – wieder – ohne festen Plan. Dann denke ich mir Schlagzeilen aus: „Auf dem Stein-Mandl-Weg“ oder „Wasser-Wege führen zum Gipfel“. Die verwegenste Idee, kam mir oberhalb der Boasligbrücke – „Mein Jakobsweg“. Aber diesen Titel hielt ich für reichlich überzogen, wenngleich ich Gefallen fand, an dem substantiellen Vergleich. Ein paar hundert Meter weiter, noch im Nahbereich der „Oberen Stöttlbrücke“ hatte die geplante Geschichte ihren vorläufigen „Arbeitstitel“ – „Wanderung zu den Stöttlbach-Quellen“. Was schließlich heraus kam, steht etwas weiter oben.
Geräuschkulisse wie am Frankfurter Nord-West-Kreuz
Ich wohne seit fast zwei Jahren in der unmittelbaren Nachbarschaft vom „Stöttlbach“, der sehr viel früher von den Einheimischen auch „Stettlbach“ genannt wurde, und weiß eigentlich ziemlich wenig von diesem herrlichen Natur-Ereignis. Nachts, wenn alles ruhig ist, höre ich ihn und sein gewaltiges Lautbild erinnert mich an das Nordwest-Kreuz in Frankfurt am Main. Montags-Früh, gegen halb-Acht. Wenn sich kilometerlange Autoschlangen in die Bürostädte quälen. Dann kann es sein, dass ich das Haus verlasse, so wie ich bin, egal wie spät es ist und mein Weg sich der imposanten Geräusch-Kulisse hinwendet. So klingt der Stöttlbach nur, wenn in den Mieminger Bergen die Schneefelder schmelzen. Eben, in den Heumonaten Juli/August. Ganz schmelzen sie nie. Hoffentlich.
Späte Geschichte
Karl Miller-Aichholz schrieb 1985 in seinem Buch „Mieming – die Gemeinde am Miemingerberg, dass er es merkwürdig findet, dass Stöttel- und Judenbach, die Trinkwasser spendenden Bäche, erst im 18. Jahrhundert in Aufzeichnungen erwähnt werden. In Homanns Landkarte von 1720 erscheint ebenfalls erstmals der „Stettlbach“, so auch auf einer Landkarte von Peter Anich aus dem 18. Jahrhundert. Das Hauptwerk Peter Anichs (* 22. Februar 1723 in Oberperfuss, Tirol; † 1. September 1766 in Oberperfuss, Tirol), der „Atlas Tyrolensis„, zählt auf Grund seines Maßstabs, seiner Präzision und der Größe des dargestellten Gebiets zu den international bedeutendsten kartografischen Leistungen des 18. Jahrhunderts. Ich finde es übrigens gar nicht so merkwürdig, denn die Menschen hatten damals andere Alltagssorgen, obwohl in dieser Zeit viele das Buch und damit das Lesen für sich entdeckten. Bis dahin las man die Bibel und allenfalls ein paar Erbauungstexte. Bedauerlich finde ich es allerdings, dass wir heute, mehr oder weniger dürftige Inhalte aus unterschiedlichsten Medien zusammentragen müssen, um uns ein Bild machen zu können.
Der Mieminger Ferner sieht aus wie ein Fisch
Die berühmteste Schneefeld-Kulisse sieht vom Mieminger Plateau aus, wie ein Walfisch. Im Volksmund heißt der „Mieminger Ferner“, ein Gletscher, deshalb auch der „Fisch“. Warum der markante „Fisch“ trotz seiner geringen Seehöhe von ca. 2500 Meter auch noch im Sommer zu sehen ist und nicht weg schmilzt, scheint das Geheimnis des „Mieminger Ferners“ zu sein. Zwischen drei und fünf Hektar misst die Fläche des kleinen Gletschers. Man vermutet, dass er an seiner kräftigsten Stelle ca. 20 Meter dick ist. Glaziologen bezeichnen zum Unwillen der Menschen am Mieminger Plateau den Mieminger Ferner als „kleinen Karggletscher“. Quelle: Martin Schmid, Der Fisch – ein vergessener Gletscher, Mieminger Dorfzeitung, 18. September 2008.
Das heimliche Mieminger Wahrzeichen
Eine Steilwand im Norden und ein Moränenwall im Süden grenzen den Mieminger Ferner ein und sorgen für sein Aussehen. Statt wie üblich längsseits, bewegt er sich kreisförmig weiter, mehrere Meter pro Jahr. Obwohl seit über 110 Jahren bekannt, fand der Mieminger Ferner bislang noch keine Aufnahme in das Gletscher-Kataster (s. Martin Schmid, Der Fisch – ein vergessener Gletscher, Mieminger Dorfzeitung, 18. September 2008) . In Mieming meint man, dies sei einer Arroganz der Wissenschaftler verdanken, die sich erst 1994 mit der Ausmessung des Gletschers beschäftigten. Für die Mieminger bleibt der „Fisch“ ein Natur-Phänomen und ist so etwas wie ein heimisches Wahrzeichen.
Gesicherte Trinkwasserversorgung
So wie der Mieminger Ferner, speisen alle anderen Schneefelder, zwischen Wank und Griesspitzen den Stöttlbach mit ihrem Schmelzwasser. Lawinenabgänge im Frühjahr füttern die Schneefelder. Das Quellwasser des Stöttbachs und der Judenklamm, versorgen seit Jahrhunderten Mensch und Vieh mit frischem Wasser. Das dies so ist, verdankt man in Mieming den Leistungen der örtlichen Wassergenossenschaft. Seit über 100 Jahren wurden von den Genossenschaftsmitgliedern in Eigenleistung Quellfassungs- und Speicheranlagen gebaut. Alois Larcher, der Wassergenossenschafts-Obmann sagt, es sei der Weitsichtigkeit seiner Vorgänger zu verdanken, dass man – sowohl aus qualitativer als auch aus quantitativer Sicht in Mieming noch heute ein sichere Trinkwasserversorgung habe.
Wasser über fünf Kilometer lange Holzleitungen
„Aufzeichnungen aus dem Jahr 1924 belegen, dass sich die Gemeinde finanziell außerstande sah, eine gemeindeweite Wasserversorgung zu gewährleisten. Die Wasserversorgung erfolgte zur damaligen Zeit durch eine ungefähr fünf Kilometer lange Holzrohrleitung, welche das Wasser aus den ganz primitiv gefassten Quellen entnimmt, die aus den Schutthalden des Hennebergs entspringen“. Quelle: Alois Larcher, Wasserversorgung: eine Selbstverständlichkeit für die Öffentlichkeit, Gemeindebuch „Mieming – Geschichte und Geschichten“, 2011, Universitätsverlag Wagner, Innsbruck).
Mit Pickel und Schaufel in felsigem Gelände
Längst sind heute die Holzrohre durch Stahlrohre ersetzt worden, die 15 öffentliche Brunnen und 17 Hydranten speisen. Alois Larcher: „Bis in die 1950er Jahre wurden all diese Arbeiten mit Pickel und Schaufel, unter teilweise schwierigsten Bedingungen, im oft felsigen Gelände durchgeführt“. Daran denke ich, beim passieren einiger Stöttlbrückenquellen auf meinem Weg ins Schneefeld-Gebiet. Wie im Gemeindebuch nachzulesen ist, wurde das Mieminger Leitungsnetz, seit einer Siedlungserweiterung stetig ausgebaut. Über 25 Kilometer lang, sind die Leitungen heute. Trotz all dieser Arbeiten und vieler naturgegebener Vorteile kam es aufgrund des schnellen Wachstums der Gemeinde Mieming immer wieder zu Versorgungsengpässen. Deshalb muss das Netz stetig erweitert werden. Neue Hochbehälter und zeitgemäße Transportleitungen gehören heute zur Infrastruktur. Derzeit speisen fünf Quellfassungen, zwei Hochbehälter mit einem Fassungsvermögen von 830 m³.
Wasser – das flüssige Gold der Alpen
Alois Larcher: „Sosehr sich der Mensch technisch auch weiterentwickelt, sosehr er danach trachtet, die Umwelt seinen Bedürfnissen anzupassen – ohne Wasser kann er nicht überleben. Das kühle Nass, das flüssige Gold der Alpen, ist ein unbezahlbarer Schatz, mit dem wir verantwortungsvoll umgehen müssen, damit er auch der Nachwelt erhalten bleibt“.
Begegnungen
Über acht Stunden war ich auf dem Weg. Begegnet sind mir in diesen acht Stunden nur zwei menschliche Wesen. Ein anderer Wanderer, bei den Schneefeldern und ein Radler unterhalb der Boasligbrücke. Viel Freude an mir hatten allerdings ein paar Stechmücken und andere Insekten. Die meisten fliegenden Peiniger wird man allerdings im 2000-Meter-Bereich wieder los. Das ist aber eine andere Geschichte.
Fotos: Knut Kuckel