21. November 2024
Annemarie und Herbert Schuchter waren vier Jahrzehnte lang die guten Seelen der Marienberg Alm. Genauso lange sind sie inzwischen auch verheiratet. 40 mal 365,25 Tage. 14-tausend-610 Tage.

Die Schaltjahre mit eingerechnet.

„Das waren vierzig Jahre Flitterwochen“, sagt die Nassereitherin Anni, die ihren Herbert aus Mieming „heute fast noch mehr liebt als in der Anfangszeit“. 

Mitte Oktober verlassen die beiden ihre Alm. Sie kehren von ihrer langen „Hochzeitsreise“ zurück, zu uns ins Tal, um später mal zu erzählen was sie alles so erlebt haben. Dafür reicht kein Tag. Keine Woche und kein Monat. Ruhe und Abstand wünschen sich die Beiden fürs Erste. „Ich werde erst einmal lange schlafen“, kündigt Anni an und Herbert will nach und nach alle Almen besuchen, die er noch nie zuvor gesehen hat.

Der gute Hirte geht

„Der Winter ist nichts mehr für uns“, sagt Herbert, „der zieht uns jetzt in die Knochen“. Als er das sagt, schaut er auf die Schneefelder der nördlichen Mieminger Kette. Dabei werden seine Augen feucht. Jeder Gedanke, jeder Satz, der sich in diesen Tagen mit seinem Ausstieg aus dem Hirtenalltag beschäftigt, macht ihn traurig. Das Aufhören scheint für den langjährigen Hirten so etwas wie „höhere Gewalt“ zu sein. Die Gene des „guten Hirten“ sind dem Schuchter Herbert mit in die Wiege gelegt worden. Als kleiner Bub durfte er zum ersten Mal einen Sommer lang auf der Felderer Alm bleiben. Mit 16 hütete er schon Kühe auf der alten Felderer Alm und Schafe auf der Seeben-Alm. In seiner Stube hängen alte Fotos aus dieser Zeit. Nach einer Schlosser-Lehre stand sein Entschluss fest. Ich werde Almhirt. „Damals war das alles noch viel härter. Die Alm war Knochenarbeit. Alles Handarbeit und Du hast die Verantwortung“.

Die Disziplin „Verantwortung“

„Verantwortung“, zu dieser Disziplin hat Herbert Schuchter eine feste Beziehung. „Wenn ich ab Mitte Juni bis zu 250 Stück Vieh und mehr als 200 Schafe auf der Marienberg-Alpe zu hüten habe, weiß ich, was das bedeutet“, sagt er. „Dann denke ich schon Mal beim Aufstehen, das sind rund 500 Leben und die haben einen Marktwert von ein paar 100-tausend Euro. Und dafür trage ich jetzt drei Monate lang die Verantwortung“. Keine leichte Hypothek, die der Hirt Jahr für Jahr schultern muss. Ohne Hilfe geht das nicht. Sein Bei-Hirte ist seit ein paar Jahren der Praxmarer Peter. Er geht zeitgleich mit Herbert Schuchter in Pension. „Ich freue mich auch immer, wenn der Brecher Franz aus Untermieming Zeit hat, mir etwas zur Hand zu gehen“, sagt der Herbert. Die beiden sind alte Schulfreunde. Herbert Schuchters Arbeitsumfeld kann sich sehen lassen. Die Marienberg Alpe umfasst ca. 900 Hektar Fläche, davon sind geschätzte 200 Hektar reine Futterfläche. Hinzu kommt noch die Weidebenutzung in Biberwier. Das sind nochmal bis zu 80 Hektar. Von den ca. 80 Mitgliedern der Agrargemeinschaft Marienberg-Alpe gehören noch 17 zu den „auftreibenden Bauern“. Die Schafhalter nicht mitgezählt. Die auftreibenden Bauern kommen aus den Weilern Obsteig/Aschland, Freundsheim, Gschwent/Fronhausen, Krebsbach, Barwies/Zirchbichl und See/Zein.

Unter vier Alm-Meistern gedient

Der Chef-Hirte der Marienberg-Alpe hat in vierzig Jahren vier Alm-Meistern gedient. Der Alm-Meister ist sein direkter Vorgesetzter und Ansprechpartner. Max Pirpamer Senior war zehn Jahre lang sein erster Chef. In den darauf folgenden 15 Jahren hörte er auf Johann Haid, danach zehn Jahre lang auf Hansjörg Wett und vor fünf Jahren wurde Benedikt van Staa sein neuer Chef. Das funktionierte auch in Zeiten ohne Mobil-Telefon sehr gut, sagt der Herbert. „Ein paar Jahrzehnte lief alles über die Funkstrecke von Louis Soraperra. Was anstand, wurde per Funkkontakt besprochen“. Da überlegte man schon sehr genau, was wichtig war. „Heute bin ich rund-um-die-Uhr erreichbar. Wenn Du Fotos von Beni van Staa siehst, hat er meistens ein Handy am Ohr“, schmunzelt der Alt-Hirte in spe. „Der Almbetrieb ist heute modernes Management“.

Die Viehhaltung unterlag einem Wandel

Das Vieh kommt im Sommer auf die Alm, weil das Futter hier reichlich ist und nahrhaft. Das Vierteljahr auf der Alm macht die Tiere aber auch widerstandsfähiger gegen Krankheiten. Je nach Witterung kommt das Vieh frühestens im Mai/Juni auf die Marienberg Alm und wird Ende September über die niederen Almen in die Winterställe zurück geführt. Heuer ist am 15. September Almabtrieb auf der Marienberg Alm. Wir „klopfen auf Holz“, denn bis jetzt ist kein Tier in diesem Sommer zu Schaden gekommen. „Das waren dieses Mal 217 Stück Vieh und ca. 130 Schafe – alle Rassen“, sagt Herbert Schuchter. Auch die Viehzucht unterlag einem starken Wandel. Es gab Zeiten, da habe es nur Braunvieh gegeben. Heute gibt es vom Braun-, Fleck- über Grauvieh so ziemlich alle Rassen. „Früher wäre beispielsweise eine Kreuzung zwischen Braunvieh und einem amerikanischen Stier eine Todsünde gewesen“, meint Benedikt van Staa. Das sei heutzutage gar nicht mehr so ungewöhnlich. Das gleiche gilt für die Schafhaltung. Längst sieht man auf unseren Almen alle Rassen. Neben dem weißen Tiroler Bergschaf, auch das gescheckte, das „Tscheggen-Schaf“.

Erinnerung an den früheren Rochus-Tag

Es hat sich zwangsläufig viel verändert, in den vergangenen vier Jahrzehnten. Anni Schuchter glaubt, dass „die Bauern früher härter im Umgang waren als heute“. Das „waren Herren, die viel Macht hatten“. Sie erinnert sich an ihren ersten Almsommer. Am Anfang hatte sie nicht selten Heimweh nach Nassereith. Die Familie und ihre Freundinnen fehlten der damals jungen Frau, die erst im Mai ihren Herbert heiratete. „Mitten im Spätsommer kam es zu einem überraschenden Kälteeinbruch. Das war an einem 16. August, dem Rochus-Tag. Das weiß ich deshalb so genau, weil an diesem Tag früher die Kälber von den Bauern geholt wurden. Es war so erbärmlich kalt, dass ich in der Küche einheizen musste. Da kam ein Bauer rein und schimpfte, weshalb ich mitten im Sommer sein Holz verbrennen würde?“ In der Zeit, erinnert sich die Anni, floss schon mal die ein oder andere Träne. Heute sei das anders. Die Arbeit und die vielen Menschen, die Tag für Tag auf die Marienberg Alm kämen, hätten sie „mutiger gemacht“.

Lawinenkatastrophe von 1999

Zurückblickend hatte Annemarie Schuchter später noch heftigere Wetter erlebt als damals. „1999 kam sogar eine Lawine durch unser Küchenfenster herein. Gottseidank kam niemand zu schaden. Der Fernpass war lange gesperrt. Das war eine regionale Katastrophe“. Schnee und Hagel würde es ja immer mal auf der Alm geben. Das sei in rund 2000 Meter Seehöhe und darüber hinaus ganz normal. „Wenn es mal ganz arg kalt war“, sagt Herbert Schuchter, gefror schon mal die alte Leitung an der 500 Meter östlich gelegenen Arzbödelequelle ein, die früher für die Wasserversorgung der Marienberg-Alm genutzt wurde. Heute entspricht alles modernen Voraussetzungen und es kann nichts mehr zufrieren. Bei langanhaltendem Regen gab es auch Probleme am Vorberg. Vom Mooswiesenweg in Barwies, bis Arzkasten und im ganzen Stöttlbachgebiet“.

„Heute haben die Menschen keine Zeit mehr“

Was sich allerdings im Gegensatz zum Wetter stark verändert hätte, erzählt dann wieder die Schuchter Anni, seien die Menschen, die zur Alm kämen. „Die haben heute alle keine Zeit mehr. Die Bauern, die Wanderer, Radler oder Tourengeher. Alle sind in Eile. Die würden am liebsten schon gegessen haben, bevor sie ihre Bestellung aufgeben“. Das führt zu mehr Stress in der Küche. „Früher haben wir am Abend oft am Tisch gehockt und uns Geschichten erzählt. Heut schaut jeder auf die Uhr und muss früh gehen“. Als sie das sagt, geht die Küchentür auf und weitere Freunde kommen herein. Wir rücken zusammen. Bernadett, Annis Ferienhilfe, stellt noch ein paar Stühle an den Tisch. Wortlos steht Hüttenwirtin Anni auf, geht zur kleinen Arbeitsplatte ihrer Küche und richtet in ein paar Minuten ein paar Jausenplatten. Butter, Wurst, Kas, Speck und selbst gebackenes Brot.

Graukas kann niemand besser als Anni machen

Oskar, ein enger Hausfreund und Helfer der Familie Schuchter, sagt: „Den Graukas kann niemand besser machen als die Anni. Der muss laufen, schau…“, sprach’s und zeigte mir, wie er gegessen wird. „Auf das Brot kommt eine dicke Scheibe Almbutter. Darauf der Graukas und viele Zwiebelringe. Wenn Du magst, kannst Du das Ganze noch ein wenig würzen, aber ich habe es so am liebsten, denn den Graukas muss ich schmecken!“ Während morgens um halb-Fünf der Herbert schon nach dem Vieh schaut, füttert die Anni ihre Milchkühe. Dann zentrifugiert sie Milch, macht Butter und Graukas. Gefrühstückt wird erst später. „Die ersten Gäste kommen oft schon kurz vor Acht, da will ich fertig sein“. Je nach Wetterlage, geht es dann so weiter, bis zum späten Abend.

„Herzlich, ehrlich, lustig“

Bernadett Fuchs arbeitet im Sommer als Kellnerin auf der Marienberg Alm. Die junge Salzburgerin, fühlt sich „total heimisch“ hier oben. Auf die Frage, wie sie ihre Chefin mit wenigen Worten charakterisieren würde, sagte sie, ohne lange nachzudenken, „…herzlich, ehrlich, lustig“. Und fügt nach kurzem Luftholen hinzu, „…über den ersten Witz lachen wir schon in der Früh, direkt nach dem Aufstehen“. Mit ihrem Praktikum fing sie vor über zwei Jahren auf der Marienberg Alm an, heuer ist es schon ihr 3. Alm-Sommer. Ansonsten besucht sie noch die Hotel- und Landwirtschaftsfachschule.

Der „Herr Chef“ und seine große Familie

Uns gegenüber sitzt Bettina Balzer aus Bieberwier, die schon als Mädchen in den Ferien bei der Anni aushalf und das heute auch noch gerne tut, wenn „Not an der Frau ist“. Auch wenn Bettina zum Schuchter Herbert „Herr Chef“ sagt, denn „soviel Zeit muss sein“, fühlt sie sich in der Hütte wie ein Familienmitglied. In ihrem Tal-Leben arbeitet sie seit vier Jahren in Ehrwald, in einem Sportgeschäft. Am Tisch sitzt noch der angehende Jung-Metzger Ulli Gassler, der quasi bei der Hirtenfamilie Anni und Herbert Schuchter ein und aus geht und für die nachhaltigere Nahrungsbeschaffung höchst qualifiziert ist. „Wir sind eine große Familie“, bestätigt Almmeister Benedikt van Staa, „und wir halten zusammen“. Das gilt für die ganze Agrar Marienbergalpe. Dann kommt der politisch motivierte Zusatz: „Die AG Marienbergalpe ist übrigens keine Gemeindegutsagrargemeinschaft“. Und das sei inzwischen höchstrichterlich bestätigt.

Verbriefter Besitz seit mindestens 1820

Nicht erst, als vor über 60 Jahren die frühere „Alpinteressenschaft“ von der Agrarbehörde in „Agrargemeinschaft Marienberg-Alpe“ umbenannt wurde, suchte man nach Urkunden, die frühere Besitzverhältnisse belegen konnten. Wohlwissend, dass so etwas noch irgendwo sein müsste. „Wir fanden eine Urkunde aus dem Jahre 1820, die unsere Agrargemeinschaft in althochdeutscher Schrift als Besitzer ausweist“, erzählt Almmeister Benedikt van Staa. Seither hätte sich daran auch nichts geändert. Ältere Urkunden wird es wohl nicht mehr geben, doch vermutlich gibt es die Almwirtschaft am Marienberg schon seit mindestens 300 Jahren. Das ist mündlich überliefert oder ist aus alten Chroniken herleitbar. „Wir sind dabei“, so Beni van Staa, „die Dinge aufzuarbeiten“. Nicht aus politischen Gründen. Der Druck ist dahin. Wohl mehr zur eigenen Identitätsfestigung. Nachdem der 10-jährige Benedikt-Junior feststellte, dass „der Knut“ schon einen „halben Schreibblock voll geschrieben“ hat, wurde es Zeit für uns, zu gehen.

Auszeichnungen und Ehrungen

Herbert Schuchter gehört zweifellos zu den am meisten ausgezeichneten Tiroler Bergschafzüchtern der Region. Im April 2012 ernannte der Schafzuchtverein Barwies Herbert Schuchter „für 50-jährige Tätigkeit als Obmann zum Ehrenobmann“ und ein paar Wochen später erhielt er vom Tiroler Schafzuchtverband das „Ehrenzeichen in Diamant“ für „besondere Verdienste auf dem Gebiet der Tiroler Schafzucht“. Eine nicht alltägliche Auszeichnung und Ehrung konnte das Ehepaar Annemarie und Herbert Schuchter Ende des vergangenen Jahres in Haiming entgegen nehmen. Der Österreichische Almwirtschaftsverein, vertreten durch dessen Obmann LR Ing. Erich Schwärzler (Vorarlberger Agrarlandesrat), LR Anton Steixner, Vize-Bgm. Klaus Scharmer (Gemeinde Mieming) und Benedikt van Staa als Obmann der Agrargemeinschaft Marienberg-Alpe konnten Annemarie und Herbert für „39 Jahre Marienbergalm Dank und Anerkennung“ aussprechen. Herbert war 2012 schon 39 Jahre als Hirte für das Vieh verantwortlich und Annemarie in der gleichen Zeit für die Milchverarbeitung und den Hüttenbetrieb. In den Bezirken Imst, Reutte und Landeck werden vom Österreichischen Almwirtschaftsverband nur alle sechs Jahre solche Ehrungen durchgeführt und daher war diese Ehrung für Herbert und Annemarie schon ein Jahr vor dem 40. Jubiläumsjahr fällig.

Anni will das Haus umbauen

Man sollte ja bekanntlich die Feste dann feiern, wenn sie fallen. Deshalb wird die Hirtenfamilie Annemarie und Herbert Schuchter beim Almabtriebsfest, am Sonntag, dem 15. September in Barwies schließlich für ihr „40-jähriges Marienberg-Alm-Jubiläum“ geehrt. Einen Monat, vor dem letzten Arbeitstag. Um die Urkunde dieser vorläufig jüngsten Ehrung in der Nassereither guten Stube der Schuchters aufhängen zu können, wird Annemarie ein wenig Platz schaffen müssen. „Zeit dafür hat sie ja ab Spätherbst“, lästert ihr Herbert mit einem zwinkernden Auge, „sie will sowieso dann das ganze Haus umbauen“. Wir wünschen dazu gutes Gelingen und vor allem der scheidenden Hirtenfamilie Annemarie und Herbert Schuchter von der Marienberg Alm, ein langes Leben bei bester Gesundheit!

Fotos: Knut Kuckel / Familie Schuchter / Privat

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Knut Kuckel

Ich engagiere mich für Medienvielfalt und Qualität im Journalismus. In meinen Blogs schreibe ich u.a. auch über Begegnungen und persönliche Erlebnisse.

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